Die Seele Europas. Ein Plädoyer

Ramona M. Kordesch für den St. Georgs-Orden im Oktober 2022

In seiner vielbeachteten Rede zur Zukunft Europas im Jahr 2022 forderte Karl von Habsburg „die Freilegung der europäischen Seele“ und bezieht sich dabei unter anderem auf Robert Schumann, der als Gründervater der Europäischen Union in besonderer Weise die Integration moralischer Werte in die Politik forderte. Hierfür bemühte er das religiöse und transzendentalphilosophische Konzept der Seele, als ordnende Kraft und formgebendes bzw. durchformendes Lebensprinzip menschlicher Gesellschaften. Wie von Aristoteles formuliert und von unterschiedlichen Vertretern einer ganzheitlichen Anthropologie bekräftigt, bilden Seele und Körper eine substanzielle Einheit. Dass auch das Gemeinwesen, die politeia, und seine Verfassung der Form nach ebenso von einer Seele, inForm einer kollektiven psyche durchdrungen ist, ist seit Platon bekannt und mit Hegel dem aufgeklärten Geist dargelegt. Als Kulturwesen entwickelt der Mensch sein Seelenleben durch die Aufnahme von Tradition, die durch die Umwelt der menschlichen Gesellschaft und ihrer kulturellen wie sittlichen Beschaffenheit auf ihn zukommt. Angesichts der weitgehenden Individualisierung und Pluralisierung westlicher Gesellschaften des postindustriellen Typs, ist die Frage nach der Existenz und der Beschaffenheit einer Seele Europas sachlich geboten. Dies schon allein aufgrund der Tatsache, dass Europa mehr ein historisch-kultureller als ein geographischer Begriff ist. Die von Oswald Sprengler vertretene und besonders unter christlich-katholischen Denkern viel rezitierte Untergangsversion der abendländischen Kultur ist vornehmlich von der Auflösung des Bewusstseinsüber moralische Werte, die nicht (!) zur Disposition stehen, geprägt. Eine Kulturmorphologie dieser Lesart fasst die abendländischen Nationalstaaten zu einer „faustischen Kultur“ zusammen, deren erstarrte und in die völlige Privatheit gedrängte Weltbilder einer neuen, noch unbestimmten Weltordnung gegenüberstehen.

Die Zuwendung zu den großen Konstanten des explizit christlichen Erbes in Europa ist über seine Gründerväter bisweilen nicht hinausgekommen, hat sich doch die europäische Einigung vornehmlich unter ökonomischen Gesichtspunkten vollzogen, und zwar unter weitgehender Ausklammerung der Frage nach den geistigen Grundlagen einer solchen Gemeinschaft. Während man die europäischen Ideale, etwa die Förderung des Friedens, der europäischen Werte und des Wohlergehens ihrer Bürger-/innen, Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit ohne Binnengrenzen benennen konnte, ist die Debatte um eine Seele Europas als gemeinsames Fundament nicht zuletzt auf den Verzicht der Invocatio Dei, den Ausweis der Verantwortung des Menschen vor Gott, in der europäischen Verfassung in der Grundrechts-Charta von 2000 aufgegangen und seither nicht mehr fortgeführt worden. Dabei ist den Kulturen der Welt die absolute Profanität, die sich im Abendlandherausgebildet hat, zutiefst fremd. Die kulturelle Transformation des Kontinents aber auch die Imperative seiner Geschichte verweisen auf den hohen Wert des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, dem die Existenz von Werten vorangeht, die von niemanden manipulierbar sind. So lebt der Staat von Voraussetzungen, für die er selbst nicht garantieren kann, weil sie von der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft vorgegeben sind und abhängen.

Dieses Wagnis, das „Dilemma der Präambel“, stellt die eigentliche Gewähr der Freiheit dar, die den europäischen Geist auszeichnet und ihm seine vorzügliche Prägung verleiht. So ist beispielsweise die Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit zur Grundlage der Menschenrechte geworden, deren Unantastbarkeit von der Idee eines Schöpfergottes, demgegenüber wir in Verantwortung stehen, erfüllt ist. Insofern ist hier wesentlich das christliche Erbe in seiner besonderen Art von Gültigkeit kodifiziert. Ein Rekurs auf die Seele Europas empfiehlt sich aber auch vor den Herausforderungen der Krisen unserer Zeit, deren Lösungsversuche mit dem Begriff der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit verbunden sind. Dabei wird das konkrete Verantwortungshandeln für das Ökosystem, in dem wir leben, also unsere Verpflichtung gegenüber der Schöpfung zum Wohle künftiger Generationen, ein zentraler Bezugspunkt sein. Ganz wesentlich bildet sich jene Verpflichtung im Diskurs moderner Zivilgesellschaften ab, die mit dem Ausweis ihrer Ideale – und das ist ein ureuropäischer Beitrag zur notwenigen Fortentwicklung globaler gesellschaftlicher Systeme- auch den Willen verbinden, ihnen zu dienen. Die Bereitschaft sich für die Gesellschaft und ihre zuträgliche Entwicklung zu engagieren, kommt gänzlich ohne einen Gottesbezug aus, findet aber in der Idee der christlichen Nächstenliebe als erstes Gebot eine Traditionsgeschichte, die für die Entwicklung der Gemeinwohlproduktion und der Philanthropie in Europa wesentlich ist.

So erweist sich die Gestaltung moderner Gesellschaften, die sich vor der Herausforderung der Globalität neu einrichten müssen, als voraussetzungsreich. Die Hinwendung zur Seele Europas kann auf der Suche nach einer postkonventionellen Moral, ohne authentische kulturelle Ressourceneingedenk der Prinzipien, die uns als Ganzes erfolgreich gemacht haben, nicht auskommen. Dafür braucht man nicht gleich „das Heilige“ zu strapazieren, wohl aber den Respekt für die gesellschaftliche Leistung der Religion in Europa, den man auch von jenen erwarten kann, die selbst nicht bereit sind, ihr zu folgen.

Autorin: Dr. Ramona M. Kordesch ist röm. kath. Theologin und Wirtschaftsethikern. Sie ist Direktorin des Österreichischen Rates für nachhaltige Entwicklung mit Sitz in Wien und Wissenschaftlerin am Leadership Excellence Institute der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee.